Sustainable Pace im Führungsteam
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Es ist Herbst 2021. Wir befinden uns in einer großen IT-Organisation, die schon seit mehreren Jahren mitten in einem digitalen Transformationsprozess ist. Veränderung ist dort für die Menschen nichts Neues. Agilität ist Standard oder soll es zumindest werden. Unternehmensweit natürlich, nicht nur in der IT.
Corona ist wieder da oder immer noch. Egal! Wir sind eine IT-Organisation und arbeiten selbstverständlich weiterhin komplett remote.
Gerade habe ich wieder ein Team von 10 Führungskräften als externer Coach frisch übernommen. Ich darf sie in ihren neuen Rollen als laterale Führungskräfte und beim Wachstum zu Servant Leaders begleiten.
Höchste Erwartungen
Doch in diesem Team ist etwas anders, als ich es bisher erleben durfte: Alle Menschen sind ausnahmslos hochmotiviert. Sie haben höchste Erwartungen - an sich selbst und an ihre Kollegen und Kolleginnen.
Einige der frischgebackenen Servant Leaders hatten schon Führungspositionen vor der “ganz großen SAFe-Transformation” inne. Andere waren ganz frisch in ihrer ersten Führungsrolle, die jetzt auch gleich noch lateral sein sollte. Eben Servant Leadership und nicht wie früher “klassisch disziplinarisch”. Und fast ausnahmslos alle kamen aus einer fachlichen oder technischen Laufbahn zuvor.
Unsicherheit und Unklarheit waren reichlich vorhanden; doch die “endgültige digitale Transformation” hatte ja quasi gerade erst begonnen.
Altlasten der Organisation
Und wie es denn auch so ist: Es gibt natürlich haufenweise Altlasten aus der alten Organisationsform: verschiedenste Interessen, alte “Königreiche”, implizite Ansprüche und einander entgegengesetzte Motivationen Einzelner.
Die Altlasten verbrannten zusätzlich unnötig Energie Einzelner, wobei diese Energie doch fürs Neue dringend gebraucht wurde.
Und zwischendrin: lauter unglaublich gut ausgebildete und erfahrene IT-Fachkräfte.
Die Personen im Führungsteam waren also nicht im luftleeren Raum: Ihre Mission war es, gute Führungsarbeit zu liefern. Damit alle Menschen in ihrem Bereich wiederum ihre Team-Missionen erfüllen können: stabile und hochwertige IT-Services in einem Cutting-Edge-Technologiefeld bereitstellen und letztlich dem gesamten Unternehmen zu weiterem Erfolg verhelfen.
Wozu Führung und wieso gemeinsam?
Neues zu lernen und vor allem Veränderung gemeinsam zu gestalten, das braucht einen langen Atem und gute Begleitung.
So fragte sich auch dieses frischgebackene Führungsteam:
Was ist eigentlich “GUTE Führung”?
Was ist Führung in UNSEREM Kontext?
Und wie führt man GEMEINSAM und verteilt?
Wie lernt man alles das auch noch “während Corona” und in weltweiten Krisenzeiten?
Alle diese Dinge hochmotiviert auf EINMAL zu wollen, das musste einfach zu Spannungen im System führen.
Krankenstand & Energie
Da kam ich also nun frisch als Teamcoach dazu, und mir wurde direkt mitgeteilt, dass mehrere der Kollegen und Kolleginnen gerade im Krankenstand waren.
Zwei der Führungspersonen waren ausgebrannt.
Bald stellte sich auch heraus: Weitere waren offenbar knapp davor oder tanzten auf einem schmalen Grat zwischen “muss ja” und “geht nicht mehr”.
Offenbar verbraucht so eine Transformation ganz schön viel Energie!
Offenheit & Sorge
Die beiden gerade abwesenden Kollegen waren sehr offen mit ihrer Erkrankung umgegangen.
Das ganze Team wusste von den Burnouts.
“Wie gut, dass es hier nichts Unausgesprochenes gibt”, dachte ich mir.
Alle Menschen im Bereich waren auf ihre Art und Weise besorgt: “Wenn Sam und Tim bald wieder zurückkommen, müssen wir aufpassen, dass unser System sie nicht wieder verschlingt?!”, hörte ich oft. Und: "Wir müssen am System etwas verändern!”
Da stand ich nun als Führungskräftecoach und gleichzeitig als Mentorin für noch einzustellende weitere neue Führungspersonen.
Mit eigener Burnout-Erfahrung wusste ich zu gut, wie leicht und schnell ein solches Organisationssystem ein einzelnes Individuum verschlingen kann.
Also: Achtung!
Voran? Na klar! - Gemeinsam? Naja …
Alle wollten voran. Alle waren motiviert. Aber gemeinsam?
Alles “war doch klar” und “wir müssen es machen, wie ICH denke” war nur eine der unausgesprochenen impliziten Erwartungen.
Alte Handlungsmuster poppten an allen Ecken und Enden wieder auf.
“Wir müssen vorwärts arbeiten”, “auf uns schaut die Unternehmung”, “man verlässt sich auf uns und auf unsere Cutting-Edge-Tech-Services” und “wir können doch jetzt nicht innehalten, inspizieren und anpassen und DANN erst weitergehen!?!”
In dieser Atmosphäre war etwas wie Sustainable Pace, ein Arbeitstempo, das gemeinsam und auf unbestimmte Zeit aufrechterhalten werden kann, nicht nur ein Fremdwort.
Nein, es war mehr: Es war ein Reizwort!
Denn natürlich hatten “alle mehr als genug zu tun”.
Die “offensichtlichen” agilen Dinge, die “man schnell mal einführen kann", wie eine Veränderung im Arbeitssystem, mehr Fokus, andere WIP-Limite - all das griff gut, zumindest in den einzelnen IT-Teams.
Nicht nur Verstehen, sondern vor allem agiles Umsetzen von Arbeiten “am gemeinsamen Organisationssystem” im Führungsteam zum Leben zu erwecken, das erwies sich schwieriger als erwartet.
Was ist Führung - und wenn ja, wie viele?
Ist Produktstrategie Führung? Hat Architekturarbeit etwas mit Führung zu tun? Wo fängt Organisationsentwicklung an und wo hört sie auf?
“Braucht es (so viel) Abstimmung?”
“Müssen wir wirklich sehen, wer woran und wozu arbeitet?”
Oder: “Können wir nicht “eiiiinfach mal was wegarbeiten”?”
Selbst ich als geduldig geltende Person konnte manches bald einfach nicht mehr hören!
Kognitives Verständnis für agile Arbeitsweisen war bei allen reichlich vorhanden. Das waren gut ausgebildete und vor allem erfahrene Menschen. Die Eigenreflexionsfähigkeiten und der wahrgenommene Handlungsspielraum waren jedoch ausbaufähig und sehr unterschiedlich verteilt.
Stress an vielen Ecken (sei es privat, pandemisch, beruflich oder eine Mischung aus alledem), alte Erfahrungen, unterschiedliche Ziele und Motivationen: All das spielte hier eine gewichtige Rolle.
“Mit NOCH MEHR Methoden kommen wir hier nicht voran!”, kam es mir eines Abends auf einer Joggingrunde in den Sinn. Die nächste Intervision mit anderen externen Agile Coaches bestätigte mir diese intuitive Einsicht.
Also erstmal: Einzelcoachings mit denen, die bereit sind. Und Retrospektiven mit allen.
Los, los! Voran!
Doch: Warum und wieso Retrospektiven auch für das Führungsteam?
Ich hörte Aussagen wie: “Wir sind doch gar kein Team!”
Und: “Ich möchte doch einfach nur MEINEN Job machen!”
Da waren sie wieder, die früher hilfreichen Handlungsmuster: Königreichbildung und Einzelkämpfertum statt Denken in Systemen. Eben das, was im alten, lange gewachsenen Organisationssystem funktionierte. Mehr oder weniger. Doch es funktionierte gut genug.
Systemblick
Neben denen, die “vorausrennen und einfach ihr Eigenes machen” wollten, gab es jedoch auch Menschen, die bereits das größere Ganze sahen.
Menschen wie Fran, einer der Scrum Master, Max, ein Product Owner und Rolf, einer der erfahrenen Architekten. Die drei bemühten sich immer und immer wieder, Learnings aus ihrem Teilsystem, ihrem Team, mit in den größeren Kontext und die gemeinsame Führungsarbeit zu bringen.
Nicht zu vergessen, die endlich wachsende Gruppe der Scrum Master inklusive des Release Train Engineers: Chris, Chet, Fran und Karsten. Ihre gemeinsame Hauptaufgabe war die Weiterentwicklung und Verbesserung ebendieses Organisationssystems.
Go with the willing …
Oft sah es so aus, als würden die Gräben (noch) größer werden.
Doch Max und Rolf brachten immer wieder Impulse aus ihren Teams mit. Sie halfen dem gesamten Führungsteam, Probleme und Herausforderungen aus Technik- und Produkt-Brille zu sehen.
Fran teilte immer wieder Einsichten aus seiner Arbeit mit den Menschen eines der Teams, ohne dabei das große Ganze aus den Augen zu verlieren.
Und Karsten, der erfahrenste Scrum Master, lebte regelmäßig vorbildhaft vor, wie es aussieht, wenn eine Führungsperson direkt und zugleich gefühlvoll handelt.
Ich fühlte mich oft als Coach dieses Führungsteams an Forschung und Impulse von Brene Brown erinnert: stark und verletzlich zugleich zu sein.
Stress? Stress!!!
Zugleich kam auch immer wieder das Thema Stress und seine Auswirkungen im Arbeitskontext auf den Tisch. Nicht immer direkt oder in der großen Runde aller Führungspersonen, doch spätestens in den gern genutzten Einzelcoachings.
Natürlich hätte ich weiter einzeln coachen können und darauf hoffen, dass das Veränderungsmoment im Führungsteam auf diese Weise irgendwann groß genug wird.
Doch ich wollte weder den Willigen diese Bürde auflasten, noch war es zielführend, alleine darauf zu vertrauen, dass die Kraft weniger Einzelner ausreichen würde.
DIE Retro
Ich nahm also eine große Portion Mut und Direktheit und bereitete die nächste Führungsteam-Retrospektive vor.
Mit dem Thema Stress war sie nicht “klassisch” auf die Arbeit einer 2-wöchigen Iteration - wie die eines Softwareproduktteams - ausgelegt. Wie auch bei Führungsarbeit?
Mir war klar, dass es sicher mindestens Reibungswärme, vielleicht auch -hitze geben würde. Denn manche im Führungsteam schätzten bereits sowohl den tieferen Austausch miteinander als auch das Teamcoaching. Für andere schien all das noch so viel Unsicherheit und Angst mit sich zu bringen, dass sie - in Kombination mit anderen Personen- und Umweltfaktoren - lieber mit “Fight” reagierten.
Ich formulierte also die Einladung noch deutlicher: als EINLADUNG, und das Thema der Retrospektive noch klarer: Es geht um Stress und den gemeinsamen Umgang damit.
Es ging um nicht weniger als Sustainable Pace für das gesamte Führungsteam!
Sustainable Pace - oder: “Wir erlernen unser Rezept beim Kochen”
Einladungen darf man ablehnen. Und so erschienen auch nicht alle Führungspersonen zu dieser Retrospektive. Doch wie es auch bei einem Open Space ist: Die, die da sind, das sind die Richtigen!
Nach dem Check-In und einem Mini-Input zu Stress und Auswirkungen im Arbeitskontext, sammelte das Führungsteam gemeinsam ‘stressige Situationen’ der letzten Zeit.
Fast wie von selbst entstand ein fruchtbarer Austausch der Führungskräfte untereinander:
was für jede*n Stress bedeutet,
wie sich Stress für jede*n zeigt
und was jede*r an individuellen Coping-Strategien nutzt, um mit Stress umzugehen.
Jede*r kam zu Wort. Es wurde einander zugehört.
Die Atmosphäre war (trotz Full-Remote-Arbeitsmodus) konzentriert, nah und voller Empathie. Auch Personen, von denen ich es bisher nicht gesehen hatte, zeigten sich von einer verletzlicheren Seite als sonst.
“Der Anfang für ein wirkliches Miteinander ist gemacht", dachte ich mir nach drei Stunden mit dem Team.
Ich war wirklich erschöpft! Doch ich war auch zufrieden, dieses bisher unausgesprochene “weiche” Thema Stress für das Team ansprechbar gemacht zu haben.
Auch wenn es keine “klassische” Retro war, nahm das Team natürlich Ergebnisse mit:
wie sie in den kommenden Wochen miteinander umgehen wollten,
wo sie einander erinnern wollten, wenn wieder Stressanzeichen aufkommen
und besonders wichtig: gemeinsam als Team “Nein!” sagen üben.
Gemeinsam!
Erste Früchte dieser Teamentwicklungsarbeit zeigten sich bald auch im ganzen Bereich:
Einladungen zu Events und SAFe-Ritualen kamen früher als “wirklich kurz vor knapp”.
Sie enthielten auch mehr Infos: eine kurze, klare Agenda wurde zum Standard.
Es wurde vermehrt kommuniziert und zwar nachlesbar für alle.
Was früher als “reine Schikane” oder mindestens unnötige Bürde angesehen wurde, schliff sich langsam aber sicher ein und begann zum guten Ton miteinander zu gehören.
Statt “haja, da waren wir zu viert doch gerade vor Ort und haben am Whiteboard gepinselt” plus anschließendem Vergessen, dass mehr als die 4 Menschen im Team waren, wurden auf einmal Informationen sinnvoll in Remote-Arbeitswerkzeugen wie Chats und Wikis bereitgestellt und vor allem: aktiv verteilt.
Von außen betrachtet könnte man jetzt wertend anmerken: "Ach, das sind doch alles Kleinigkeiten!” Oder vereinfachend feststellen, das alles gehöre doch zum “gesunden Menschenverstand”.
Doch wenn man selbst Teil eines neuen und sich stetig verändernden Organisationssystems ist, dann sind das alles große, bemerkenswerte und vor allem wertvolle Schritte. Schritte, die erwachsene, gebildete und erfahrene Menschen freiwillig miteinander aushandeln und vor allem: gehen. In ihrem ganz eigenen Tempo.
Resilienz & Feedbackschleifen
Es brauchte noch eine weitere Führungsteamretrospektive. Krankheits- und urlaubsbedingt wieder nicht mit allen, aber dafür wieder mit motivierten Menschen und in einer anderen Zusammensetzung als letztes Mal.
Es brauchte auch noch einen Offsite-Teamcoaching-Workshop. Wieder konnten nicht alle teilnehmen. Wieder kamen ‘meine’ Führungskräfte als ein sich allmählich formendes Team ein paar Schritte weiter.
Und ganz langsam schienen auch Themen, die ich schon vor langem “gepredigt” hatte, anzukommen.
Nein, natürlich hatte ich nichts gepredigt!
Ich schlug Dinge vor, begründete sie und erkundete Bedürfnisse und Bedenken, wenn Zweifel geäußert wurden. Immer und immer wieder.
Natürlich nur, wenn es passte; und es passte oft in verschiedenen Gesprächen und Kontexten.
Als einzige nicht komplett ins Führungsteamsystem involvierte Person hatte ich auch einen (halbwegs) frischen Blick von außen.
So wuchsen also neuerdings leise, zarte “Pflänzchen”, die von den Führungspersonen selbst gehegt und gepflegt wurden.
Es wurden GEMEINSAME Inspect & Adapt-Zyklen gefordert und sich für eine Aufhebung der starken Trennung des Führungskreises und der “restlichen” Menschen in den Teams stark gemacht. Kürzer sollten die Feedbackzyklen auch noch werden.
Mein Teamcoachherz begann höher zu schlagen!
Innehalten & Integrieren
Auf einmal wurden Retrospektiven etwas von den Menschen Gewolltes, statt etwas von mir als Teamcoach Gefordertes.
Auch die bereichsweiten Reviews für die gemeinsam verantworteten IT-Services und Softwareprodukte sollten ab sofort auch Aspekte der Führungsarbeit enthalten. Das Bewusstsein wuchs, dass sowohl Produktstrategie wie auch technische Cross-Cutting-Concerns auf einer gewissen Flughöhe für alle von Relevanz und Interesse waren.
Und nein, natürlich entstand das alles nicht “mit einem Mal”.
Akzeptanz stellt sich ein
Aus der Gruppe Führungskräfte entwickelte sich langsam aber sicher ein echtes Team. Sie formten gemeinsame Ideen und Wünsche. Sie begannen an MIR als ihrem Teamcoach zu “ziehen”, statt - im übertragenen Sinne - ich immer wieder an IHNEN zu “zupfen”.
Offen gestanden brauchte ich einen, naja, eher zwei Momente, um das alles zu verdauen.
Ja, ich bin professionell ausgebildete Coach und seit vielen Jahren Teamcoach. Ich weiß, es ist Teil meines wunderbaren Jobs, Menschen zu helfen, sich selbst zu helfen und vor allem: eigene Wege zu finden und zu gehen.
Doch auch ich bin nur ein Mensch: Zu sehen, dass manche Impulse erst dann wirklich aufgegriffen wurden, wenn sie von innen heraus kamen, das war nicht immer leicht für mich.
Manches wurde natürlich auch anders, als ich mir das mit meiner langjährigen Erfahrung vorstellte. “Zumindest werden sie gemeinsam lernen”, das wusste ich. Und wenn gemeinsames Lernen stattfindet, dann war auch dieser Schritt essentiell für die Entwicklung als Team.
Kognitiv wusste ich all das natürlich.
Und manchmal ertappte ich mich emotional doch am Zweifeln, ob ich “nicht doch etwas hätte anders machen können, dass meine Message schneller und effizienter bei ihnen ankommt”.
Nein, natürlich nicht!
Spätestens in meiner Supervision wurde ich wieder daran erinnert:
wie Systeme von Menschen funktionieren,
was es braucht, um gemeinsam zu lernen …
… und dass alles gut so ist, wie es geworden war.
Die von mir grundlegend geschaffenen Inspect- und Adapt-Mechanismen hatten die internen Kollegen und Kolleginnen nun entweder übernommen oder bewusst verändert.
Und immer öfter hörte ich in meinen Einzelcoachings etwas wie “Es geht langsamer … aber es geht endlich gemeinsam”, “Das fühlt sich gut an” und “Wir kommen gemeinsam weiter!”
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